- Palmyra und seine bildliche Hinterlassenschaft
- Palmyra und seine bildliche HinterlassenschaftInmitten der auf weite Strecken hin von Wüstensteppen geprägten Landschaft zwischen dem Euphrat und dem fruchtbarem Westen Syriens sticht das Grün einer Oase ins Auge, die nomadisierende Wüstenstämme und Kaufleute zum Verweilen oder zum Bleiben einlud, wenn sie unter Entbehrungen das karge Gebiet mit ihren Esels- und Kamelkarawanen durchquerten. Diese Oase wurde schon in der Jungsteinzeit aufgesucht, die Spuren der Besiedlung reichen Jahrtausende zurück. Schon um 2200 v. Chr. gab es hier ein Dorf mit dem aramäischen Namen Tadmor, das auf einer assyrischen Keilschrifttafel aus dem 19. Jahrhundert v. Chr. erwähnt wird. Da sich hier wichtige Handelsrouten - unter ihnen die Weihrauchstraße - kreuzten und verschiedenste Kulturen aus dem Westen, Norden und Osten ihre Spuren hinterließen, entwickelte sich die Niederlassung zum Zentrum der syrischen Wüstensteppe. Einen bestimmenden Anteil hatten dabei semitische Stämme und Bevölkerungsgruppen, von denen einige namentlich bekannt sind. Sie errichteten ihre Heiligtümer in der Oase und bildeten Siedlungsagglomerationen, die in späthellenistisch-frührömischer Zeit durch ein urbanistisches Konzept verbunden wurden: die Oasenstadt Palmyra, die im 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. eine einzigartige kulturelle Blütezeit erlebte, deren archäologischen Zeugnisse noch heute zu sehen sind.Obwohl heute der Wüstensand den Großteil der einstigen Stadt bedeckt, sind ihre Heiligtümer und Tempel obertags erhalten geblieben; teilweise wurden sie auch (seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts) freigelegt. Dass die Sakralarchitektur einen besonderen Stellenwert besaß, wird bei Betrachtung der Topographie Palmyras auch ohne nähere Ortskenntnisse deutlich. Denn die Stadt wurde von einem wie von Riesenhand erbauten Tempelkomplex dominiert, der sich über einen einstigen Siedlungshügel ausbreitete. Dieser dem Gott Baal geweihte Sakralbereich bestand aus einem kaum überschaubaren Säulenhof und dem eigentlichen Heiligtum. Zwei augenfällige Merkmale - einerseits die Säulen mit korinthischen Kapitellen und die den Tempelhof bildenden Säulenhallen, andererseits abgetreppte Zinnen - prägten das Äußere und weisen den Komplex als eine Synthese mesopotamischer und hellenistischer Architektur aus. Neben diesem Sakralbereich befanden sich weitere Tempel im Zentrum und an der westlichen Peripherie der Stadt. Geschaffen wurden sie nach den Vorstellungen der semitischen Auftraggeber von Baumeistern, die trotz seleukidischer (ab dem 3. Jahrhundert v. Chr.), später römischer Oberhoheit (ab dem späteren 1. Jahrhundert v. Chr.) ein ausgeprägt palmyrenisches Selbstverständnis besaßen, obwohl sie altbewährte Architektur- und Bildtraditionen aufgriffen und fortführten.Diesen spezifisch palmyrenischen Gestaltungswillen zeigen auch die häufig beträchtlich über Augenhöhe angebrachten Reliefdarstellungen im Tempelhof, im Innersten des Heiligtums an den Gebälken, an den Ädikulen und Nischen der Grabtürme, in den Grabkammern, auf den Konsolen von Säulen oder auf Altären: Stets sind die Figuren dem Betrachter zugewandt, binden ihn in das Bildgeschehen ein, fordern ihn durch bedeutungsvolle Gesten zur Teilhabe und zum Dialog auf. Die Aufreihung - die parataktische Anordnung von oft isoliert wirkenden Figuren in einer Bildebene - sowie die frontale und statische Darstellungsweise wurden durch syrische Reliefs ab dem späteren 2. Jahrtausend v. Chr. sowie durch assyrische oder persische Bildträger des 1. Jahrtausends v. Chr. vermittelt. Deren Erbe traten die palmyrenischen Bildhauer und Steinmetzen an, wobei sie in der Detailfreudigkeit und minutiösen Wiedergabe verschiedener Utensilien (vor allem der Gewänder und Textilien) einen Perfektionismus entwickelten, wie er in keiner anderen antiken Kunstlandschaft jemals erreicht wurde. Diese Meisterschaft ornamentaler Gestaltung wurde über Jahrhunderte tradiert und mündete in den qualitativ hoch stehenden Stuckverzierungen der frühislamischen Paläste Rakkas, der ersten Hauptstadt der Abbasiden. Die palmyrenischen Reliefs lassen jedoch nicht nur stilistische Entwicklungen und Tendenzen fassbar werden, sondern sind auch als Informationsquelle von erstrangigem Wert: In ihnen sind zum Beispiel Besonderheiten der der parthischen Kleidung entsprechenden Tracht oder die Tragweise des Schmucks der Bewohner Palmyras in Stein verewigt.Den größten Bekanntheitsgrad erzielten zweifellos die palmyrenischen Grabreliefs, in denen man früher eine Vorstufe spätantiker Porträtplastik erkennen zu können glaubte. In den ober- wie unterirdisch erhalten gebliebenen Grabmälern fanden sich Sarkophage, Sarkophagaufsätze mit Figurengruppen und vor allem zahlreiche Büsten, die in örtlichen Werkstätten nach standardisierten Typen vorgefertigt und auf Bestellung feinbearbeitet und bemalt worden waren. Trotz dieser serienmäßigen Produktion spricht jede Büste - selbst eine solche, die sehr schematische oder starre Züge trägt - den Besucher der Grabanlagen direkt und unmittelbar an. Diese Eigentümlichkeit der palmyrenischen Grabreliefs änderte sich auch nicht mit der politischen Vorherrschaft Roms, als von einheimischen Meistern Anregungen seitens der offiziellen römischen »Reichskunst« aufgegriffen und auch in der Grabkunst umgesetzt wurden.Dass in Palmyra auch eine vom Westen beeinflusste offizielle Repräsentationskunst existierte, darf gerade für die Blütezeit der Oasenstadt im 3. Jahrhundert n. Chr. vorausgesetzt werden. Der reinen Zurschaustellung dienten etwa die Statuen von Angehörigen des Königshauses des die Gebiete vom Roten Meer bis Kilikien im Taurus umfassenden Palmyrenischen Reichs, etwa der schon zu Lebzeiten Legende gewordenen Regentin Zenobia, und von einflussreichen Persönlichkeiten, die an den öffentlichen Plätzen und Prachtstraßen der Stadt, auf Ehrensäulen (wie sie außer in Palmyra nirgendwo sonst noch zu finden sind) oder auf Torbauten standen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Ausgestaltung von Räumlichkeiten mit Mosaikfußböden, Wandmalereien und Stuckverzierungen in den Häusern der gehobenen Bevölkerungsschicht, die sich bei der Auswahl der Bildinhalte und Themen bereits hellenistisch-römischem Geschmack angeglichen hatte. So fanden in einem im Grunde genommen bildlosen Umfeld die von mehreren Kulturbereichen geprägten Bildtraditionen Palmyras eine eigenwillige und eigenständige Form und Ausdruckskraft, die der syrischen Oasenstadt eine wohl einmalige Bedeutung und Stellung innerhalb der antiken Kunst sichern.Prof. Dr. Erwin M. RuprechtsbergerPalmyra. Geschichte, Kunst und Kultur der syrischen Oasenstadt. Ausstellung des Stadtmuseums Linz — Nordico, 10. April —27. Mai 1987, mit Beiträgen von Khaled Assa'd u. a. Redaktion Erwin M. Ruprechtsberger. Linz 1987.
Universal-Lexikon. 2012.